Langsam, ganz langsam ist die Stille aus unserem Alltag verschwunden. Mittlerweile leben wir fast vollstĂ€ndig eingehĂŒllt in eine Wolke aus GerĂ€uschen, Sprache und Musik. Wer will, braucht keinen einzigen Moment der Stille mehr auszuhalten. Dabei möchte sie uns unendlich Wertvolles schenken. Das Elbsandsteingebirge ist eine Einladung dazu, die schöne Fremde wiederzuentdecken.

Ein warmer Freitagvormittag im August, irgendwo im Wald bei Stadt Wehlen. Die BlĂ€tter rauschen, Vögel zwitschern, Wasser tropft, Insekten summen. Ganz schön laut ist die Stille, wenn man mal genau hinhört. NationalparkfĂŒhrer Ralf SchmĂ€dicke hat seine kleine Wandergruppe gerade eingeladen, jetzt zwei Minuten ganz ruhig zu sein und einfach nur zu lauschen. Anschließend tauscht man sich ĂŒber das Gehörte – oder eben Nichtgehörte – aus.

„Hier gibt es Orte, da kann man die Stille richtig fĂŒhlen“, schwĂ€rmt der Wanderleiter von dieser Gegend. Er ist oft hier unterwegs, in der Saison jeden Freitag. Dann lĂ€dt er zur „Entdeckertour in die FelsengrĂŒnde um Stadt Wehlen“. Die fĂŒhrt weg von der ĂŒblichen Hauptroute durch den Wehlener Grund in Richtung Steinerner Tisch in weniger bekannte GrĂŒnde. Hier bleibt es selbst im Sommer wunderbar ruhig. Die Stille ist Balsam fĂŒr GroßstĂ€dter, die oft erst hier, wo das Grundrauschen komplett fehlt, merken, dass es vorher da war.

(c) Sebastian Thiel©: Sebastian Thiel

Stille wurde als Faktor fĂŒr die Erholung lange unterschĂ€tzt. Das Ă€ndert sich jetzt, weil das Bewusstsein wĂ€chst, dass wir Menschen des 21. Jahrhunderts ein massives LĂ€rmproblem haben. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat das 2011 fĂŒr eine Studie durchgerechnet: Uns WesteuropĂ€ern gehen etwa eine Million gesunde Lebensjahre durch UmweltlĂ€rm, insbesondere VerkehrslĂ€rm, verloren – pro Jahr! Hauptdiagnosen sind Schlafstörungen und BelĂ€stigung mit großem Abstand gefolgt von Herzerkrankungen, kognitiver BeeintrĂ€chtigung bei Kindern und Tinnitus. Übrigens muss LĂ€rm nicht laut sein. Schon das Gewusel im GroßraumbĂŒro, das ferne Dröhnen der Autobahn, das dezente Rumpeln eines Windrades können enorm belasten.

Aber warum macht uns die Abwesenheit der Stille fertig? Gewöhnt man sich nicht daran? Und macht sie uns nicht nur dann krank, wenn wir uns darĂŒber Ă€rgern? Nein, denn die Prozesse, die GerĂ€usche in uns auslösen, verlaufen unbewusst. Das Gehirn wertet jedes GerĂ€usch aus, um die adĂ€quate Reaktion darauf zu finden. Das ist ein uralter und bis heute lebensrettender Automatismus.

Doch reißt der Strom der akustischen Reize nicht ab, wird die Verarbeitung fĂŒr das Gehirn zum Stress. Stresshormone werden ausgeschĂŒttet, um die LeistungsfĂ€higkeit zu erhöhen. Nicht nur das Gehirn, sondern der gesamte Körper wird dabei in Alarmbereitschaft versetzt. Herzschlag und Atmung beschleunigen, Blutdruck und Muskelspannung steigen. Auch das ist ein natĂŒrlicher und wichtiger Prozess.

Probleme ergeben sich erst, wenn die Ruhephasen ausbleiben, wenn der Stress zum Dauerzustand wird, wie es bei konstantem GerĂ€uschpegel der Fall ist. Dann ergeben sich aus dem zunĂ€chst rein psychologischen PhĂ€nomen LĂ€rm, die genannten echten physische Probleme. Doch auch die psychologischen sind gravierend. Kinder lernen in lĂ€rmbelasteten RĂ€umen schlechter als Kinder in ruhigen RĂ€umen. Das ist schon seit den 1970er Jahren wissenschaftlich belegt. Die negativen Effekte des LĂ€rms fĂŒr die geistige LeistungsfĂ€higkeit gelten auch fĂŒr Erwachsene. Doch Dauerstress ist nicht die einzige Ursache dafĂŒr.

Im Jahr 2001 haben Gehirnforscher einen „Default mode“, einen „Standardmodus“ entdeckt, in welchen das Gehirn wechselt, sobald externe Reize eine Zeit lang ausbleiben. Wir nehmen das als tagtrĂ€umen, besinnen, betrachten, meditieren, den-Gedanken-ihren-Lauf-lassen wahr. Und dieser Modus ist alles andere als ein Energiesparprogramm, ganz im Gegenteil. Es ist ein aktiver Prozess, bei dem wir EindrĂŒcke bewerten, sortieren und verknĂŒpfen, Ideen haben, PlĂ€ne schmieden, MitgefĂŒhl entwickeln. Dieser Vorgang hilft uns, unseren Platz in der Welt zu finden.

(c) ThielPR, Sebastian Thiel©: Sebastian Thiel

Wenn uns die Stille also stĂ€rkt, wenn sie uns hilft, lĂ€nger, gesĂŒnder und glĂŒcklicher zu leben sowie besser zu lernen, zu arbeiten und mehr Mensch zu sein, warum vertreiben wird das letzte bisschen, das uns davon geblieben ist, freiwillig aus unserem Leben? Radio, Fernsehen, Musik, Podcasts und Videos begleiten uns durch den Tag – vom Aufstehen bis zum Zubettgehen. Vertragen wir keine Stille mehr?

Manche sehen hinter dem Wunsch nach Dauerberieselung die Scheu vor der Selbstreflexion. Schließlich legt uns unser GedĂ€chtnis in der Stille auch gern einmal unbequeme Fragen vor. Lebst du das richtige Leben? Wo soll es hingehen? Was ist der Sinn? Das strengt an. Dann vielleicht doch lieber Kopfhörer auf und etwas Musik bis der Bus kommt?

Doch das Interesse an der Stille wĂ€chst. „Die große Stille“, ein Dokumentarfilm fast ohne Worte und Musik ĂŒber den Schweigeorden der KartĂ€user war ein Überraschungserfolg im Jahr 2006. Der stille Urlaub, also die Auszeit im Kloster oder das Pilgern, liegt schon lĂ€nger im Trend. Finnland hat schon 2011 die Stille als touristisches Marketingthema entdeckt. 2017 erschienen gleich zwei BĂŒcher zum Thema, die Bestseller wurden: „Kraft der Stille: Gegen eine Diktatur des LĂ€rms“ von Kardinal Robert Sarah sowie „Stille: ein Wegweiser“ des Abenteurers Erling Kagge. „Sehnsucht nach Stille“ war die Focus-Titelgeschichte im November 2017.

Auch die Menschen, die in das Elbsandsteingebirge reisen, kommen immer öfter gezielt wegen der Stille in der Nationalparkregion. Das erlebt AndrĂ© Rother, der in seinen Ferienwohnungen im Bielatal schon seit 2016 zum Medienfasten lĂ€dt. Und das bestĂ€tigt auch NationalparkfĂŒhrer Ralf SchmĂ€dicke. „Ja, das Interesse am Thema Stille nimmt zu“, stellt er fest. „Viele reisen von Naturlandschaft zu Naturlandschaft auf der Suche nach dem meditativen Naturgenuss und kommen dabei auch irgendwann hierher.“

„Durch das Waldreich der Stille zu den BalzhĂŒtten“ heißt eine seiner Spezialtouren. Sie fĂŒhrt durch ausgedehnte WĂ€lder in der Böhmischen Schweiz, jenseits der Kirnitzsch in Richtung der einsamen ForsthĂŒtten, in denen einst die FĂŒrstenfamilie Kinsky die Sommer verbrachte. Es ist eine der einsamsten und stillsten Gegenden des Elbsandsteingebirges. „Hier gibt es Wege, auf denen man oft stundenlang keiner Menschenseele begegnet.“ Auch der neue Forststeig Elbsandstein sei Stillesuchern zu empfehlen, da er ĂŒber besonders einsame Pfade im deutsch-tschechischen Grenzgebiet fĂŒhrt.

(c) Sebastian Thiel©: Sebastian Thiel

Doch man muss nicht immer weit wandern, um heilsame Ruhe zu erleben. Die NebentĂ€ler des Wehlener Grundes wurden bereits genannt. Ebenfalls gut erreichbare Ziele fĂŒr Stillesucher sind die Hintere SĂ€chsische Schweiz rund um Hinterhermsdorf sowie das linkselbische Gebiet.

Und natĂŒrlich ist Stille nicht nur eine Frage des Ortes, sondern auch der Zeit. Morgens oder Abends sind selbst Touristenmagnete wie Bastei, Amselsee und Lilienstein meist wie ausgestorben. Wer antizyklisch wandert, also besonders frĂŒh oder sehr spĂ€t startet, kann das erleben. Ein regelrechtes Stillefestival bietet der Winter. Dann ist es auf den beliebtesten Touristenpfaden auch tagsĂŒber wunderbar ruhig.

Bei seinen Touren durch das Elbsandsteingebirge weist Ralf SchmĂ€dicke immer wieder darauf hin, wie ungewöhnlich kurz der Weg in die Stille hier ist. „Wir leben in einem Ballungsraum mit fast einer Million Menschen“, erinnert er die Wanderer dann. „Doch wir erreichen mit der S-Bahn in kurzer Zeit einen Ruheraum der Stille. Das ist ganz außergewöhnlich. Diesen Luxus bieten andere BallungsrĂ€ume nicht.“

Text: Sebastian Thiel

Fotos:
alle Fotos dieses Blogartikels © Sebastian Thiel

Bildnachweise:

  • Im Wald: Sebastian Thiel
  • Malerweg: Sebastian Thiel
  • Wanderrast: Sebastian Thiel
  • Logo SĂ€chsisch-Böhmische Schweiz: TVSSW
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