In der Hölle ist es stockfinster und ein bisschen unheimlich. Wer vor Tagesanbruch zur Carola-Aussicht will, kommt durch diese wilde Schlucht. Und lernt, wie mächtig die Dunkelheit dort werden kann. Über Wege, die man besser nicht alleine geht. Oder gerade.
Es gibt Menschen, die für alles eine Erklärung haben. Die unsere Angst vor der Dunkelheit kindisch finden. Die alles, was sich ihrem Verstand entzieht, für Einbildung halten – oder für einen Irrtum. Und die unserer Welt jede Dimension, die sich nicht erfassen, begründen oder berechnen lässt, einfach absprechen. Diesen Menschen kann geholfen werden!
Im Elbsandsteingebirge gibt es einen verwinkelten Pfad, der über Stock und Stein und zwischen Felsen hindurch geradewegs in die Hölle führt. So heißt eine schmale, wildromantische Schlucht im Nordwesten der Affensteine, die sich unterhalb vom Carolafelsen tief ins Gebirge gräbt – und ins Gedächtnis all derer, die einmal durch sie hindurchgewandert sind. Allein schon wegen ihres Namens: Wilde Hölle. Es ist nichts Absonderliches darüber bekannt, woher die Schlucht ihren Namen hat. Vielleicht ist er einfach vor langer Zeit einem fantasievollen Geist entsprungen, der in diesem Stück Natur etwas Dunkles und Unheilvolles sah. Aber da ergreift schon der Verstand das Wort…
Um wirklich zu fühlen, was der Name bedeutet und dass er tatsächlich etwas Wesenhaftes berührt und eine wahre Geschichte über die Schlucht erzählt, muss man sich auf den Weg machen, bevor es alle anderen tun. Lange vor Tagesanbruch. Alleine.
Eine schwüle Sommernacht im Elbsandsteingebirge, ein Parkplatz im vorderen Kirnitzschtal. Dass hier, um 3.30 Uhr, kein anderes Auto steht, war zu erwarten. Das man auch sonst nichts sieht, hingegen nicht. Die Sächsische Schweiz hat den Vorhang zugezogen. Am Tag zuvor ging ein heftiges Unwetter nieder – jetzt steht der Nebel wie eine Wand auf beiden Talseiten. Ich setzte den Rucksack auf, schalte die Stirnlampe an und mache mich auf den Weg: Hinauf zur Carola-Aussicht soll´s gehen und dann weiter zum Sonnenaufgang in die Schrammsteine. So jedenfalls der Plan. Doch dafür muss ich zuerst durch die Hölle.
Der Nasse Grund sieht aus wie ein Schwarzes Loch. Kein gutes Omen. Denn aus Schwarzen Löchern kehrt bekanntlich nichts zurück, das weiß man aus Physikbüchern. Nicht mal Licht. Zwei Schritte hinter der Brücke werde ich „verschluckt“. Und schon ist es da: dieses bestimmte und unerklärliche Gefühl, NICHT alleine zu sein. Jeder kennt das, aber nur wenige geben es zu. Als ob der Wald etwas zu verbergen hätte. Man muss nicht an Gespenster glauben, um sich beobachtet zu fühlen – Etwas Wahres ist dran. Alles, was um diese Zeit hier draußen herum kreucht und fleucht, ist zumindest sehtechnisch viel besser ausgerüstet. Die Stirnlampe ist bei Nebel keine Hilfe, man leuchtet wie in einen Suppentopf und sieht nichts als Schemen und Schatten, und manches davon will man auch lieber gar nicht erst sehen. Es ist geradezu unheimlich still und so finster wie in einem längst vergessenen Kellergewölbe. Ich laufe mein normales Tempo, angeweht von feuchtem Dunst und dunklen Vorahnungen.
Nach zehn Minuten kommt links der Abzweig in die Wilde Hölle. Hier wird es noch dunkler. Sogar der Lichtkegel der Stirnlampe scheint sich jetzt kleinzumachen. Der Weg wird steiler und schmaler. Manchmal blitzen Tropfen und Pfützen im Unterholz auf, als wären es Augen. Zweige und Äste werden lebendig. Die Nacht bekommt Gesichter, Arme und Beine. Richtet man gezielt die Lampe darauf, verwandeln sich solche geisterhaften Erscheinungen blitzschnell und scheinfromm in harmlose Bäume und Steine – doch man spürt ganz sicher: Sobald man ihnen den Rücken zukehrt, nehmen sie wieder ihre alte Gestalt an. Wenn man so etwas an sich heranlässt, kann die Dunkelheit sehr mächtig werden. Was dagegen hilft: Einen Moment lang innehalten, den Rucksack absetzen und irgendetwas Rationales tun. Das Handy checken scheidet aus. In der Hölle gibt´s kein Netz. Dann vielleicht ein Foto machen.
Der Nebel scheint sich allmählich zu lichten. Ich hole Stativ und Kamera raus, stelle Blende und Belichtungszeit ein und fokussiere nach Belieben und Gefühl – denn viel zu sehen ist trotzdem nicht. Hoch oben zwischen den Baumwipfeln leuchtet ein sichelförmiges Ding – der Mond. Sein blasses Licht bleibt in den Zweigen gefangen und schafft es nicht bis auf den Boden. Zu meiner Überraschung macht die Kamera trotzdem ein halbwegs brauchbares Bild. Und gibt mir dadurch die Gewissheit, noch in vertrautem Gelände zu sein.
Der Weg überquert die Untere Affensteinpromenade und taucht alsbald in einen klammartigen Abschnitt ein, aus dem er sich später umständlich über Stufen und Leitern als schmaler Pfad wieder herauswindet. Die Felsen sehen in der Dunkelheit so aus, als würden sie heimlich die Köpfe zusammenstecken. Nur an einer Stelle weichen sie ein Stück auseinander und lassen einen Menschen durch – das ist der Höllen-Schlund, durch den man ins Innere der Klamm gelangt. Plötzlich ist mir, als wäre dort zwischen den Felsen ganz kurz ein unterdrücktes Kichern gewesen, hell und leise, fast kindlich. Wie etwas, das vorbeihuscht und dann irgendwo still in der Finsternis verharrt. Ich bleibe stehen und lausche angestrengt in die Nacht – doch da ist nichts. Vielleicht war´s nur mein Rucksackriemen. Ich fange an zu spinnen! Die Schlucht hat ihr Spiel mit mir.
Es sind solche Erlebnisse, die einem die Nackenhaare zu Berge stehen lassen, weil man sie nicht fassen kann. Man steht da und beginnt an sich selbst zu zweifeln, weil es keine schlĂĽssige Erklärung gibt. Ein Windhauch zum Beispiel oder ein Waldkauz… Sogar ein Wildschwein wäre mir lieber. Vielleicht ahnt man in solchen Momenten, dass es in den Tiefen der Welt Dinge und Orte gibt, zu denen der Verstand niemals vordringen wird. Von denen er nie etwas Sichtbares ans Licht holen kann. Vielleicht ist das unsere eigentliche HĂ–LLE – das GefĂĽhl, dass unter der zerbrechlichen Kruste unseres Wissens immer etwas viel Größeres sein wird, etwas wie ein gigantisches Schwarzes Loch.
Bis zur Carola-Aussicht passiert nichts Merkwürdiges mehr. Friedlich kreuzt der Pfad die Obere Affensteinpromenade und steigt dann gemächlich weiter dem Plateau entgegen. Es beginnt allmählich zu dämmern. Der Wald verliert sein gespenstisches Wesen und bekommt die vertraute Gestalt zurück: Kiefern, Birken, Heidekraut – nach und nach gibt die Dunkelheit alles, was sie gefangen hat, wieder frei. Das Leben kehrt zurück. Die ersten Vogelstimmen. Und dann bin ich oben. Unter mir, noch eingepackt in Nebeldecken, erwacht die Sächsische Schweiz – mit gähnend schwarzen Abgründen, blassblauen Felsen, und einem Himmel, der in der Ferne schon leicht rötlich wird. Es ist ein märchenhaft schöner Morgen!
Ich setzte den Rucksack ab und atme tief durch. Eigentlich wollte ich dem Tag zuvorkommen und vor Sonnenaufgang in den Schrammsteinen sein, aber nun bin ich hier – und der Rest ist egal. Ich setze mich hin, nehme einen Schluck aus der Wasserflasche und lasse die Stimmung wirken. Welchen Weg ich auch einschlage von hier – er führt immer ins Licht. Der Spuk ist vorbei, und die Hölle hat mich ausgespuckt.
Kurzbeschreibung:
Eine wildromantische Schlucht im Nordwesten der Affensteine: die Wilde Hölle. Ihrem mystischen Namen wird sie besonders in mondlosen, nebelverhangenen Nächten kurz vor Tagesanbruch gerecht – aber wer sie um diese Zeit durchwandern will, braucht Dreierlei: Ortskenntnis, eine gute Stirnlampe und viel Trittsicherheit. Und: Diese Tour ist nichts für schwache Nerven! Auch am Tag ist die Hölle noch allemal mystisch genug. Vom Parkplatz am Nassen Grund geht es über die Brücke die Forststraße entlang und nach etwa einem halben Kilometer links die Eulentilke bergauf. Die Schlucht wird allmählich enger, der Weg kreuzt die Untere Affensteinpromenade und führt in einen klammartigen Abschnitt hinein, aus dem es über Stufen und Stiegen – später wieder bequemer – hinauf zum Carolafelsen geht (eine der schönsten Aussichten der Sächsischen Schweiz!) Von hier kann man die Tour über den Zurückesteig zur Breiten Kluft und den Schrammsteingratweg bis zur Schrammsteinaussicht verlängern. Anschließend gelangt man über den Mittelwinkel zur Wildwiese hinunter und zurück in den Nassen Grund – und hat eine herrlich fotogene Panoramatour absolviert.
- Distanz 8,6 Kilometer
- 392 Höhenmeter
- Wanderzeit ca. 3:00 h (ohne Rast)
- Charakter: anstrengend und abenteuerlich!
- Einkehrmöglichkeiten: u.a. die Traditionsgasthöfe „Forsthaus“ oder „Lichtenhainer Wasserfall“ im Kirnitzschtal
- Parkplatz am Eingang zum Nassen Grund
- Ă–PNV: S-Bahn bis Bad Schandau, dann mit der Bus-Linie Linie 241 Pirna-Hinterhermsdorf ins Kirnitzschtal. Wer mag, kann auch mit der Kirnitzschtalbahn fahren. Fahrplaninfos: rvsoe.de
WeiterfĂĽhrende Tipps und Route zum Download: www.sandsteinblogger.de
Zum Autor
Hartmut Landgraf lebt und arbeitet als freier Journalist, Texter und Herausgeber des Online-Magazins SANDSTEINBLOGGER.DE in Dresden. Die Touren- und Reportage-Website hat ihren Schwerpunkt im Elbsandsteingebirge, ist thematisch aber auch in anderen Ecken der Welt unterwegs. 2016 war das Magazin Medienpartner des Deutschen Wandertages und wurde 2017 in Innsbruck mit dem traditionsreichen BergWelten-Journalismuspreis ausgezeichnet.
Fotos:
alle Fotos dieses Blogartikels © Hartmut Landgraf, SANDSTEINBLOGGER.DE
Bildnachweise:
- Waldweg bei Nacht: HLandgraf
- Nacht Baum: HLandgraf
- Nebel und Wald: HLandgraf
- Baum auf Felsen: HLandgraf
- Blick Sächsische Schweiz blau: HLandgraf
- Felsen Ausblick Sächsische Schweiz: HLandgraf
- Felsen Nebel: HLandgraf
- Logo Sächsisch-Böhmische Schweiz: TVSSW
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